Das Netz der Drogenmafia in Medellín


Alles begann mit Drogenboss Pablo Escobar. Dann kam das Medellín-Kartell. Und heute unterhält die Oficina de Envigado ein mächtiges kriminelles Netzwerk mit weitreichenden Verbindungen zur Geschäftswelt, und der kolumbianischen Regierung ist es bisher nicht gelungen, dieses zu zerschlagen. Das Problem sind nicht mehr nur die kriminellen Machenschaften der Organisation, sondern das gigantische Wirtschaftssystem, das sich um die Oficina herum entwickelt hat.

Medellín und Neapel liegen tausende Kilometer voneinander entfernt: Medellín, in Südamerika, Neapel in Europa. Erstere, eine noch junge Stadt, die andere, mehr als tausend Jahre alt. Medellín liegt inmitten der Berge, Neapel am offenen Meer. Dennoch gleichen sie sich. Beides sind pulsierende Industriestädte, in denen allerdings auch die Kriminalität boomt. In beiden Städten ziehen Jugendliche von klein auf mit der Browning im Hosenbund durch die Straßen. Sie erpressen, mischen bei großen Geschäften mit, kaufen Politiker und begleichen Blutschuld mit brutaler Gewalt. Von Kugeln durchsiebte Leichen. Tote, die Spuren von Folter aufweisen. Ausgelöschte Familien. Bedrohte Richter. Korrupte Beamte, die den Mafiabossen Gefälligkeiten erweisen.

Die Aufnahmen des 2008 nach dem gleichnamigen Buch von Roberto Saviano erschienenen Films Gomorra wirken, als wären sie direkt aus dem kolumbianischen Film Rodrigo D no futuro entnommen, der ein Portrait des Medellín vor 20 Jahren zeichnet. In beiden Städten ist die Mafia eine dunkle Macht im Untergrund, deren Atem auch in den Straßen zu spüren ist. Sowohl die Camorra in Neapel als auch die Oficina de Envigado in Medellín funktionieren wie Wirtschaftssysteme, genau so wie es Saviano in seinem Buch beschrieben hat. Es sind Systeme, die weit über die organisierte Kriminalität hinausreichen.

Vielleicht sind diese Parallelen zwischen beiden Städten der Grund dafür, dass sich im Büro des Bürgermeisters von Medellín, Alonso Salazar, eine ganze Reihe von Savianos Büchern findet. „Hier drin steht beschrieben, was bei uns gerade passiert”, sagt er und bezieht sich dabei auf die Macht der Drogenmafia und insbesondere auf die sogenannte Oficina de Envigado, die, wie er leidvoll bekennt, die höchste Autorität in seiner Stadt darstellt.

In den vergangenen vier Jahren wurden dutzende Anführer dieser kriminellen Organisation gefasst und hinter Gitter gebracht oder sind zu Tode gekommen. Zuerst traf es den obersten Boss der Oficina „Don Berna“. Er wurde an die USA ausgeliefert und dort zu 31 Jahren Haft verurteilt. Sein Nachfolger, der Fußballunternehmer Gustavo Upeguí, wurde von „Danielito“ erschossen, der dann den Chefposten für kurze Zeit innehatte, bis auch er umgebracht wurde. Es folgten „Rogelio“ und „Yiyo“; beide verhandelten mit den USA. Der Letzte, den es traf, war „Douglas“. Doch die Liste der Nachfolger ist lang. Noch ist die Mafia in Medellín nicht besiegt. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn es einen Wechsel an der Spitze der Oficina gibt, nimmt die Gewalt zu. Die Errungenschaften der Stadt in Sachen Sicherheit sind in Gefahr. Während 2007 in Medellín 776 Morde verübt wurden, lag die Zahl im Jahr 2008 bei 1.035. Tendenz weiter steigend.

Ende März, zur Jahresversammlung der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), fand sich die Stadt in einer unheimlich paradoxen Situation wieder. Die Zeitungen zeichneten das Bild einer menschenfreundlichen, modernen Metropole, mit riesigen Bibliotheken in den Vierteln der Ärmsten, einer Seilbahn, die die wohlhabenden Viertel im Tal mit den armen auf den Berghängen verbindet, und einem gesellschaftlichen Leben, auf das jede Stadt in der ersten Welt neidisch wäre. Am Ende der darauf folgenden Woche hatte man allerdings 31 Mordfälle registriert. In den steilen Gassen der Elendsviertel war Blutrache an der Tagesordnung. Im Mai starben an einem Wochenende 19 Menschen. Alle wurden erschossen. Einige Leichen fand man in Kofferräumen von Autos, andere lagen im Straßengraben. Hier haben Drogenhändler und Banden im Kampf um die Vormachtstellung in der Stadt ihre Rechnungen beglichen. Polizei und Stadtverwaltung wissen, auf wessen Konto die Morde gehen: auf das der Oficina de Envigado.

Wenn es aber vor 20 Jahren gelang, mit dem Medellín-Kartell und Pablo Escobar fertig zu werden, warum ist dann heute eine Zerschlagung der Oficina de Envigado nicht möglich? Wie sieht diese kriminelle Organisation eigentlich genau aus? Wie funktioniert in Medellín das Zusammenleben der erfolgreichsten Unternehmen und einer der mächtigsten Mafiaorganisationen des Landes?

Die Hydra

Am 15. April gab es einen Polizeieinsatz in einer abgeschlossenen Siedlung in den Anhöhen von El Poblado, der besten Wohngegend von Medellín. Hier wohnte in einem nur mit Bett und Billardtisch ausgestatteten Apartment José Leonardo Muñoz, alias „Douglas“. Bei dem Einsatz wurden verschiedene groß- und kleinkalibrige Waffen sichergestellt. Muñoz hatte bis dahin als einer der Bosse der Oficina de Envigado gegolten und ihm wird die Verantwortung für hunderte Morde zugeschrieben. Außerdem kontrollierte er einen Großteil der Unterwelt. Sein Geschäft war eines der rentabelsten in der ganzen Stadt: Er organisierte die lokale Verteilung der Drogen. In Medellín gibt es schätzungsweise 3.000 kleine Läden oder jibariaderos, die mit Drogen im Schnitt einen Umsatz von 12.000 Millionen Pesos machen. Und da sind andere illegale Aktivitäten wie Erpressung, Schutzgelderpressung und der Betrieb von Spielautomaten noch nicht mit eingerechnet. Um die Vormachtstellung in diesen Geschäften wird zum Teil bis aufs Messer gekämpft. Das jedenfalls zeigt sich seit einigen Jahren in Medellín.

Erpresst werden vor allem Transportunternehmen. Diese unterhalten in Medellín 4600 Busse. Jedes der Unternehmen muss wöchentlich eine „Spende“ in Höhe von 20.000 Pesos zahlen. Dieses Geschäft bringt der Mafia schätzungsweise bis zu 4,5 Milliarden Pesos jährlich ein. Das Geld wird in den jeweiligen Stadtvierteln an den Endhaltestellen der Busse eingetrieben, und obwohl viele der Viertel über Polizei verfügen, kann die Oficina de Envigado hier ungestört agieren. Das zweite illegale, aber ebenso enorm rentable Geschäft der Oficina sind die CONVIVIR im Stadtzentrum Medellíns, private Sicherheitskooperativen aus demobilisierten AUC-Mitgliedern, die als Bürgerwehren agieren. So zahlen mehr als 10.000 Lokale im Schnitt 30.000 Pesos pro Woche, von den größten Geschäften bis hin zu den fliegenden Händlern. Dabei fließen Billionen von Pesos und es herrscht derzeit ein Krieg um jeden Häuserblock, denn jeder einzelne Block stellt eine satte Einnahmequelle für einen der Mafiabosse dar. Um diese Machenschaften herum haben sich circa 360 Jugendbanden gebildet. Sie sind das Resultat davon, dass das gesellschaftliche Leben der Stadt nun schon seit drei Jahrzehnten von der Mafia kontrolliert wird. Allerdings sind die Jugendbanden nur für einen Teil der verübten Verbrechen verantwortlich zu machen, denn ihre Bandenchefs wechseln häufig und Bündnisse und Pakte sind nur von kurzer Dauer.

Das Gleiche gilt für die Kontrolle der Drogenhandelsrouten, um die seit der Demobilisierung der Paramilitärs der Vereinten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC) gekämpft wird.

Die Hauptrouten des Drogenhandels bilden ein „Dreieck des weißen Goldes“: In Bajo Cauca, im Nordosten der Provinz Antioquia, wird das Kokain hergestellt, am Golf von Urabá erfolgt der Export und in Medellín wird das Geld gewaschen. Deshalb geht es bei dem Krieg der Drogenbosse nicht nur um die Kontrolle über das Aburrá-Tal, die Metropolregion von Medellín. Wer in Antioquia ein mächtiger Mafiaboss werden will, der muss an allen drei dieser Punkte präsent sein, so jedenfalls hielten es „Don Berna“, „Macaco“, „Don Mario“ und El „Loco“ Barrera. Letzterer, so scheint es, strebt derzeit nach der Vormachtstellung auf den Drogenhandelsrouten.

Die Kontrolle der Routen setzt eine komplexe Logistik und das Vorhandensein verschiedener Transportmittel voraus. Nicht umsonst hat sich der Flughafen Olaya Herrera immer im Visier der Behörden befunden. Seit der Zeit Pablo Escobars haben sich die Drogenhändler kleine Flotten aus Sportflugzeugen und Hubschraubern aufgebaut. In den vergangenen zwei Jahren wurden in der Karibik mindestens drei Flugzeuge mit Kokain an Bord abgefangen, die von Olaya Herrera aus gestartet waren. Die Maschinen von „Cuco Vanoy“ beispielsweise, einem inzwischen an die USA ausgelieferten Paramilitär und Drogenhändler, verkehrten regelmäßig zwischen Bajo Cauca und Medellín. Als Ende 2007 Nancy Ester, eine ehemalige Flughafenangestellte, ermordet wurde, war der Einfluss der Mafia erneut in Olaya Herrera zu spüren. Auf der Leiche hatte die Mafia einen Zettel mit der Aufschrift por sapa (wegen Verrats) hinterlassen.

Aber nicht alle Aktivitäten der Mafia sind der organisierten Kriminalität zuzuordnen. Die Drogenmafia hat sich von einer kriminellen Organisation hin zu einer Holding-Gesellschaft aus verschiedenen Unternehmen entwickelt, die sich „in einer Grauzone zwischen legal und illegal bewegt“, wie es General Arcesio García, der Polizeichef von Medellín, formuliert. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Oficina oft als Abbild der italienischen Mafia angesehen wird.

Viele Historiker und Analysten bezeichnen dieses Phänomen als charakteristisch für die Region und insbesondere für Medellín, wobei sich diese Entwicklung auf genau die gleiche Art und Weise auch in italienischen, russischen und japanischen Städten, in Sao Paulo und in New York beobachten lässt. Daher dürfte sich die derzeitige Situation nicht allein aus kulturellen Aspekten heraus erklären lassen, sondern auch durch die wirtschaftliche Lage und die Globalisierung.Beschreibung

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